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Leben ohne Zeit

Im Krankenhaus machten wir, zusammen mit den Sanitätern, Ramil fertig für den Transport.

Er musste mit dem Krankenwagen fahren.

Wir fuhren mit dem Auto direkt nach, mit gepackten Koffern und der Ungewissheit wie lange wir weg sein werden.

Parkplatz gefunden, Klinik gefunden.

Vor der Tür. Wir klingelten.

Ein langer, weißer Gang. Wir wussten nicht was uns erwartet. Wir liefen, Schwestern kamen uns entgegen. Wir hörten ihn schreien.

Wir liefen weiter. Ein paar Meter vor dem Zimmer, es wurde ruhig.

Wir traten ein.

Da war er. Die Ärztin schaute uns mit verwunderten Augen an und sagte:

„Er hat sie gespürt und hat aufgehört zu weinen, als sie den Gang hochgelaufen sind.“

Seine Ärztin, eine Ärztin mit Leib und Seele. Die uns so unendlich viel über ihn und sein Wesen beigebracht hat, welches bis heute noch zutrifft.

„ Er hat uns gespürt“ und wie er das hat. Er brauchte uns bei allem, egal was war, er machte alles mit, Hauptsache wir waren an seiner Seite. Und waren wir es nicht – kamen schwere Zeiten.

Es war erstmal ankommen angesagt. Wir wussten nicht wo vorne und hinten ist. Was wir anfassen dürfen und was nicht, wo wir hin dürfen und wo nicht. Wieder ein Labyrinth.

Ramil bekam im Zimmer ganz oben links sein Bett. Die Schwestern erzählten uns nach und nach wo alles ist. Das Abpumpzimmer (mein zweites Zuhause für die nächsten Wochen), die Küche, die Räume der Station.

Kaum angekommen kam die erste neue Situation auf uns zu. Die Schwester nahm ihn an sich, für den ersten Versuch zu essen.

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Das erste Fingerfeeding

 

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Warten auf die erste Platte

 

„Fingerfeeding“

Während er am Finger nuckelte wurde seitlich ml für ml Muttermilch in den Mund gespritzt. Eine für uns völlig neue Art des Fütterns. Aber schon da merkten wir, wir sind hier richtig.

Es war wichtig ihm das Gefühl des Essens zu geben, bevor er die komplette Nahrung über die Sonde bekam.

 

Nach einiger Zeit mussten wir uns auch wieder verabschieden, denn wir mussten nach unserer Unterkunft schauen. Da er auf Intensivstation lag konnten und durften wir nicht bei ihm schlafen. Es war die Hölle sein Kind nicht mitnehmen zu dürfen und es in fremden Händen zu lassen.

Nicht da sein wenn er weint, weint nach uns, weint nach Liebe, weint nach Geborgenheit.

Wir kamen die ersten Tage in einer Art Jugendherberge unter, die recht nahe an der Klinik war. Zu Fuß brauchten wir etwa 10 Minuten. Wir sind diese Strecke jeden Tag mehrmals gelaufen. An meinen Kaiserschnitt und die Heilung dachte ich dabei nicht.

Kaum alles ausgeladen, machten wir uns auf direktem Weg wieder in die Klinik.

Wir waren bei Ihm und es kam eine Psychologin zu uns und stellte sich vor. Mein erster Gedanke war: Ich brauch doch keinen Seelendoktor, ich bin doch nicht krank. Ich will bei meinem Kind sein und nicht mehr. Aber diese Frau wurde ein ganz wichtiger Ansprechpartner und „neutrale“ Anlaufstelle für uns. Sie war es auch die endlich Licht ins Dunkle brachte:

Sie fragte uns: Sie wissen ja bestimmt schon was Ihr Sohn hat. Wir antworteten: Nein, auf die Antwort warten wir noch immer….

Sie: Franceschetti Syndrom, das ist eindeutig. Das kann man direkt sehen.

Wir nahmen das in uns auf. Sie sagte uns zwar, geht jetzt aber nicht auf Google und schaut euch alles an. Es ist bei jedem Kind anders. So und jetzt sagt mir, was würdet ihr in der Situation machen? Natürlich. Wir haben genau das gemacht. Wir haben alles gelesen und uns angeschaut was es bedeutet.

Dieser Moment erleichterte uns zwar zunächst, aber zum anderen wurde uns noch deutlicher klar

„Unser Sohn hat ein Handicap fürs Leben“

Die ersten Tage in Tübingen

Ein Geduldsspiel zwischen warten, hoffen, Freude und Rückschlägen.

 Wir lernten die Ärzte und vor allem die Schwestern kennen und es wurde uns nach und nach erklärt was gemacht wird.

„Plattentherapie“ war das Zauberwort.

Ich bin so unendlich dankbar, dass es Menschen wie Frau Dr. Bacher gibt, die ihr Leben für genau so etwas opfern.

Sie ist Kieferorthopädien und war der Schlüssel für so viele Kinder und Erwachsene.

Warum?

Weil Sie mit dieser Methode wahnsinnig viel, ganz OHNE OP, erreicht.

Unser Sohn hatte keinen Gaumen und sein Kiefer war so weit zurückgestellt, dass er kaum auf dem Rücken liegen konnte ohne dass seine Zunge ihm den Luftweg abgeschnürt hat.

Wir hatten wahnsinniges Glück, dass wir bis dato keinen Luftröhrenschnitt brauchten, denn schon in seinen jungen Lebenstagen lernte Ramil schnell mit der Situation umzugehen. Und schaffte es auf dem Bauch genügend Sauerstoff zu erhalten.

Frau Dr. Bacher stellt Platten her, die den unterschiedlichsten Anforderungen angepasst werden.

Der Weg bis zur richtigen Platte war allerdings nicht so einfach.

Es bedeutete Geduld und Abwarten.

Dieser Begriff bekam dort eine ganz andere Bedeutung für uns. Das Leben, das so an uns vorbeirast, war stillgelegt. Stillgelegt, weil wir WARTETEN.

Von Abdruck über Plattengewöhnung, Schlaflabor und Trinktraining.

Plattensuche und Fingerfeeding

Als erstes gab es eine Platte, die den Gaumen ersetzte mit einem Sporn, der bis zum Zungenhintergrund reichte. Dieser Sporn drückte die Zunge nach vorne.

 Nach kurzer Zeit merkte man allerdings, dass die Atmung dennoch nicht besser wurde.

Eine Endoskopie brachte Licht ins Dunkel

.Mit einer kleinen Kamera durch die Nase schauten sich die Ärzte den Bereich im Rachen an. Man merkte, dass dieser Bereich enorm dünn war und sich beim Atmen noch mehr zusammendrückte.

Nun war wieder warten angesagt.

Eine andere Platte musste her. Die nächste sollte eine Pfeifenplatte sein. Sie hatte ein komplett durchgehendes Röhrchen, um die Rachenhinterwand offen zu halten.

 

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Pfeifenplatte

 

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Ramil mit Pfeifenplatte

Die erste Zeit war ok.

Man musste die ersten Tage abwarten, da durch den „Fremdkörper“ mehr Speichel entsteht und dies das Atmen ebenso erschwert wie das Schlucken.

Ach ja, Schlucken. Schlucken das war ebenfalls eine Umstellung, da ja am Zungenhintergrund ein Druck entstand.

Nach den ersten Tagen und Nächten wurde Ramil in ein Schlaflabor gebracht

 Man merkte dort: auch diese Platte ist nicht die Richtige.

Wieder warten und warten

Ein erneuter Versuch

Eine Gaumenplatte mit Sporn und einem Röhrchenaufsatz für die Rachenhinterwand.

Die fast perfekte Lösung war gefunden.

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Ramil mit seiner Platte, wie ausgewechselt.

 

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Seine Spornplatte

Ihr könnt euch nicht vorstellen wie schön dieser Moment war, als wir unseren Sohn zum ersten Mal auf den Rücken legen konnte und er uns anstrahlte mit dieser Platte im Mund.

 

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Ramil ohne Platte / Seine Gaumenspalte

 

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Uns so sah es aus wenn die Platte drin war, der Sporn reichte bis zum Zungenhintergrund und drückte die Zunge von hinten nach vorne

Nun war wieder warten angesagt, Schlaflabor musste gemacht werden und man musste nach Druckstellen schauen.

Das Schlaflabor stellte fest, dass noch eine kleine Optimierung erfolgen musste. Er brauchte Löcher in dem Röhrchen, damit sich die Rachenhinterwand nicht mehr festsaugen konnte.

Also wieder warten bis die Platte da war

Dann wieder warten bis das Schlaflabor gemacht war.

Dann wieder warten bis alle Verbesserungen gemacht wurden, die zu Druckstellen führten.

Während man die Tage abwartete hieß es alle 3-4 Stunden Fingerfeeding.

Üben, Üben ,Üben

Er musste lernen zu schlucken, und zu nuckeln.

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Mama beim Fingerfeeding, ml für ml

 

kleinekaempfer 2016 0020Für ihn harte Arbeit

 

Wir lernten in dieser Zeit die Pflege der Platte, das Einsetzen, das Saubermachen, das Rausnehmen usw.

Ebenso lernten wir ihm eine Magensonde zu legen.

Wir bekamen einen Baby Erste Hilfe Kurs für die Beatmung.

Wir bekamen die Einweisung in einen tragbaren Puls und Sauerstoffmonitor.

Und ganz nebenbei suchten wir immer wieder nach Unterkünften.

Wir wussten ja nie wie lange wir noch da bleiben mussten.

Tag für Tag lebten wir mit unserem Kämpfer zwischen Monitoren, Schwesternaufsicht, Arztgesprächen, Essenspausen, ganz viel da sein bei unserem kleinen besonderen Engel und gemeinsam mit ihm Warten, Warten, Warten.

Es durfte kein Besuch zu Ramil.

Nach Absprache mit den Ärzten durften wir im Krankenhausgarten spazieren gehen und es war möglich dass Omas und Opas den Kleinen besuchen konnten.

Ein klein bisschen „Freiheit“ in diesem Park. Um den Kreis laufen. Aber ihr könnt euch nicht vorstellen wie gut das tat.

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Spazieren im Krankenhausgarten

 

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Meine Mutter durfte nach Absprache auch mit auf Station, da sie die Pflege von ihm auch mit aufnehmen sollte, sobald wir nach Hause kommen würden.

Sie bekam dieselben Einweisungen wie wir.

Und dann gab es den einen Abend, an dem uns Freunde besuchen kamen, auch wenn sie nicht zum Kleinen durften. Sie kamen 2 Stunden gefahren um mit uns zu Abend zu essen.

Einen ganz kleinen Augenblick konnten wir durchatmen und Kraft sammeln für die weiteren Tage und Wochen die noch kommen sollten.

Es tat so gut.

Nachdem wir die richtige Platte für ihn gefunden hatten, musste die Atmung einige Tage stabil sein. Druckstellen durften keine vorhanden sein und das Essen ein wenig funktionieren.

All dies klappte recht gut und wir dachten zum ersten Mal ans Heimgehen.

Und genau in dieser Nacht bekam er Fieber.

Es hieß wieder einmal warten

Warten wie er sich macht. Ob er die Erkältung veratmen kann oder nicht.

Es musste enorm viel Schleim abgesaugt werden.

Somit bekamen wir auch noch einen Kurs in Absaugen und ein Absauggerät für Zuhause.

Ich fühlte mich jetzt schon wie eine Krankenschwester mit zu viel Herz.

Die Tage waren überstanden. Schließlich mussten wir nach Hause fahren, da wir keine Unterkunft mehr hatten. Zu diesem Zeitpunkt stand noch nicht sicher fest, ob Ramil am Tag darauf auch nach Hause gehen darf.

Am Nachmittag riefen wir nochmals in der Klinik an und fragten wie es Ramil geht und was die Ärztin sagt. Sie sagte:

JA

JA wir dürfen am nächsten Tag nach Hause.

Somit beschlossen wir Zuhause alles fertig zu machen und am nächsten Morgen ganz früh los zu gehen, um unseren Engel nach Hause zu holen.

Es war so schrecklich das Kind in der Klinik zu lassen und nicht selbst dort sein zu können, aber der Gedanke daran ihn dann endlich mit nach Hause nehmen zu können. Unbeschreiblich.

Das war so wahnsinnig schön.